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Dieser Artikel ist Teil einer Reihe.

  • Teil 1: Gängige Methoden im Umfeld soziotechnischer Architekturen
  • Teil 2: Plattformen, Teams und APIs: Wie passt das zusammen?
  • Teil 3: Soziotechnische Architektur als Wettbewerbsvorteil
  • Teil 4: Vergesst die Menschen nicht
  • Teil 5: Wieviel Denken erträgt ein Team? (dieser Artikel)
  • Teil 6: Interne Entwicklungsplattformen – Shift Down statt Shift Left
  • Teil 7: Enabling von Stakeholdern als Erfolgsfaktor
  • Teil 8: Soziotechnische Architekturen: Informalität vom Bergbau bis heute

Die Rolle von Cognitive Load in soziotechnischen Systemen.

Dass Cognitive Load in der IT, speziell im Software Engineering, eine Rolle spielt, ist naheliegend. Software Engineering ist Wissensarbeit und wird zum größten Teil durch Denk- und Kommunikationsprozesse – kognitive Prozesse – geleistet. Ausgehend von der Idee, dass eine hohe Cognitive Load problematisch ist, lässt sich die Frage stellen: Wie kann Cognitive Load in einer IT-Organisation reduziert werden?

Die Cognitive Load Theory

Das von John Sweller et al. formulierte Konzept der Cognitive Load bezieht sich auf die Frage, wie viel ein Mensch leisten muss, um etwas zu lernen. Dazu unterscheidet er drei Typen von Cognitive Load, die für moderne Didaktik essenziell sind und die im Folgenden auf Software Engineering bezogen werden sollen.

Die sogenannte Intrinsic Cognitive Load kann als grundlegendes Maß für die Komplexität einer Aufgabe betrachtet werden: Die Komplexität der Aufgabe, zwei Zahlen zu addieren, ist geringer als die Komplexität der Aufgabe, eine Polynominterpolation durchzuführen. Entsprechend ist auch die Intrinsic Cognitive Load für das Erlernen von Addition geringer als für das Erlernen der Polynominterpolation. Die Intrinsic Cognitive Load für einen Lerngegenstand ist diesem inhärent und kann nicht verändert werden. Es ist aber möglich, durch eine andere Darlegung der Aufgabe, die Intrinsic Cognitive Load schrittweise aufzubauen. So lernen Kinder in der Grundschule zunächst nicht das prinzipielle Additionsprinzip, sondern das Addieren im Zahlenraum von 1 bis 10, später von 1 bis 100. Nachdem diese Lerngegenstände verstanden wurden, wird der gesamte Zahlenraum eingeführt und die Addition als allgemeines Prinzip angewandt.

Prinzipiell gilt: Je mehr Teilaspekte für einen Lerngegenstand relevant sind, desto höher ist die Intrinsic Cognitive Load*. Der Grund ist, dass für einen Lernerfolg diese Teilaspekte gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis vorgehalten werden müssen, um sie verknüpfen zu können. Durch die angemessene Strukturierung der Lerngegenstände können Abstraktionsstufen für kohärente Teilaspekte eingeführt werden, die Lernende den Weg schrittweise gehen lassen – die tatsächliche Intrinsic Cognitive Load des Lerngegenstands wird dadurch aber nicht reduziert.

Die Extraneous Cognitive Load beschreibt zusätzliche Belastungen, die außerhalb des Lerngegenstands erzeugt werden. Diese entspringt nicht dem Lerngegenstand selbst, sondern zum einen der Aufbereitung des Lerngegenstands und zum anderen der Umgebung, in der das Lernen stattfindet. Das ist insbesondere für die multimediale Aufbereitung von Lerngegenständen wichtig, da sowohl Bewegung als auch Geräusche ihren Platz im Arbeitsgedächtnis beanspruchen und damit einer Darlegung wie oben beschrieben entgegenlaufen können. Beispiele sind Videos, in denen neben Folien und Ton noch die vortragende Person zu sehen ist, obwohl deren Sichtbarkeit für das Verstehen des Inhalts nicht notwendig ist, oder die Verwendung von Fußnoten in Texten, die relevante Inhalte beinhalten und somit den Lesefluss unterbrechen.

Die Extraneous Cognitive Load ist an sich recht gut zu beeinflussen, allerdings ist das Reduzieren der Extraneous Cognitive Load oft mit einem gewissen Aufwand verbunden. Eine ruhige Umgebung, passende und konsistente Visualisierung, ein roter Faden im didaktischen Aufbau sind Maßnahmen, die die Extraneous Cognitive Load beeinflussen können.

Zu guter Letzt gibt es noch die Germane Cognitive Load, die die Leistung bei der Verknüpfung von Elementen im Arbeitsgedächtnis mit bereits gelernten Elementen im Langzeitgedächtnis beschreibt. Die Germane Cognitive Load ist praktisch der Aha-Moment, in dem das Begreifen des Lerngegenstands stattfindet. Dieses Begreifen wird nach Sweller et al. leichter, je geringer Intrinsic Cognitive Load und Extraneous Cognitive Load sind. Lernende können dabei prinzipiell nur die Germane Cognitive Load erleben. Die Differenzierung nach Intrinsic Cognitive Load und Extraneous Cognitive Load und die Arbeit mit diesen Konzepten sind nur den Personen möglich, die Lerngegenstände aufbereiten.

Cognitive Load im Software Engineering

Im Software Engineering findet Lernen anhand von vier konkreten Lerngegenständen statt: Erstens beim Erlernen einer fachlichen Domäne, zweitens beim Lernen, was eine konkrete Anforderung bedeutet, drittens beim Erlernen der Arbeitsmittel (Programmiersprachen, Frameworks usw.) und viertens beim Verstehen von fremdem Code.

Es leuchtet ein, dass jedem dieser vier Lerngegenstände eine Intrinsic Cognitive Load nach dem oben vorgestellten Modell zueigen ist. Fachliche Domänen haben ihre eigene Komplexität, die sehr unterschiedlich ausfallen kann. Je nachdem, wie viele Teilaspekte einer solchen fachlichen Domäne ein:e Software Engineer:in bereits kennenlernen konnte, fällt das Erlernen der neuen leichter. Daher ist der Wechsel zwischen fachlichen Domänen leichter zu bewältigen, wenn sich diese ähnlich sind: Die noch zu bewältigende Intrinsic Cognitive Load beim Wechsel von der Domäne Bilanzbuchhaltung in die Domäne Lohnbuchhaltung ist geringer als beim Wechsel in die Domäne Smart Home-Steuerung. Die Intrinsic Cognitive Load der drei Domänen ändert sich dadurch nicht, aber die Germane Cognitive Load für Lernende fällt deutlich unterschiedlich aus.

Neue Anforderungen haben ebenso eine Intrinsic Cognitive Load und müssen vor der Umsetzung verstanden werden. Im Unterschied zum Erlernen der fachlichen Domäne treten neue Anforderungen aber kleinteiliger und öfter auf. Das Verstehen der fachlichen Domäne kann dabei durchaus als Voraussetzung für das Verstehen der Anforderungen betrachtet werden: Sind sowohl die fachliche Domäne als auch die Anforderung neu, erhöht sich die Germane Cognitive Load beider Lerngegenstände, da sie jeweils als Extraneous Cognitive Load für den jeweils anderen Lerngegenstand wirken.

Das Erlernen neuer Arbeitsmittel ist im Software Engineering häufig notwendig. Der Einfluss auf die für Lernende relevante Intrinsic Cognitive Load wird durch die Vertrautheit mit ähnlichen Arbeitsmitteln beeinflusst. So ist die noch zu bewältigende Intrinsic Cognitive Load beim Erlernen einer neuen Version eines bekannten Frameworks in der Regel niedriger als beim Erlernen eines völlig unbekannten Frameworks, das im Prinzip die gleiche Aufgabe erfüllt. Andererseits lassen sich bestimmte Arbeitsmittel nicht unabhängig voneinander lernen: Es ist kaum möglich, ein Konzept wie Objektorientierte Programmierung zu lernen, ohne dabei auch eine Programmiersprache zu erlernen. Die Herausforderung bei der Darlegung dieser beiden Lerngegenstände ist es, den Lernpfad so zu strukturieren, dass die Intrinsic Cognitive Load beider Lerngegenstände bewältigt werden kann, ohne dass Lernende eine zu starke Verknüpfung herstellen müssen. Auch wenn eine prinzipielle Verknüpfung notwendig ist, wäre eine zu starke Verknüpfung unerwünscht, weil dies bedeuten würde, dass Lernende beide Lerngegenstände nur gemeinsam anwenden können und dann Objektorientierte Programmierung mit einer anderen Sprache völlig neu lernen müssten.

Zu guter Letzt lässt sich Cognitive Load auch beim Verstehen von fremdem Code beobachten. Ist die Programmiersprache und die im Code realisierte Anforderung bekannt, ist die noch zu bewältigende Intrinsic Cognitive Load niedriger, als wenn eines oder beide unbekannt sind. Zusätzlich wird durch die Art der Aufbereitung des Codes eine Extraneous Cognitive Load erzeugt, die sich auf die Verständlichkeit auswirkt. Während Formatierungen automatisiert umgestellt werden können, sind Aspekte wie Namensgebung und Kommentare etwas, das die Extraneous Cognitive Load sowohl erhöhen als auch reduzieren kann. Gleiches gilt für die Verwendung von Entwurfsmustern.

Cognitive Load in Teams

Die Cognitive Load Theory wurde über vier Jahrzehnte entwickelt und in ihrer Gültigkeit für das individuelle Lernen mehrfach bestätigt.

Durch die komplexeren Aufgabenstellungen im Zusammenhang mit Digitalisierung und interdisziplinär zu lösenden Problemen drängt sich die Frage auf, inwiefern sie auch für Teams gültig und anwendbar ist. Im Fokus stand dabei nicht, wie sich die Arbeit im Team auf die Cognitive Load der Individuen auswirkt, sondern ob das Konzept der Cognitive Load Theory bei einem Team anwendbar ist.

In den Arbeiten von Paul Kirschner et al. wurde gezeigt, dass das prinzipiell möglich ist. Allerdings gibt es, anders als beim individuellen Lernen, einige weitere Aspekte zu beachten und notwendige Anpassungen.

Grundlage ist die Hypothese eines gemeinsamen Arbeitsgedächtnisses eines Teams (collective working memory), das nur innerhalb des Teams existiert. Gebildet wird das gemeinsame Arbeitsgedächtnis durch Kommunikation und Koordination innerhalb des Teams. Jede Person im Team bringt Wissen ein und trägt zur Verknüpfung des gemeinsamen Wissens bei. Damit können Personen, die neu zum Team stoßen, nicht automatisch am bereits durch das Team Gelernten partizipieren. Das gemeinsame Arbeitsgedächtnis ist also ein guter Grund für stabile Teams.

Besonders spannend an der Idee des gemeinsamen Arbeitsgedächtnisses ist, dass nicht mehr jedes Teammitglied alles lernen muss, sondern die Möglichkeit besteht, dass Individuen jeweils nur bestimmte Aspekte lernen. Damit lässt sich die Intrinsic Cognitive Load einer sehr komplexen Aufgabe bewältigen, indem sie im Team verteilt wird. Das funktioniert jedoch nicht für jeden Typ von Problem: Während es beim Erlernen einer Fachdomäne durchaus Teilaspekte gibt, die nicht alle Teammitglieder verstehen müssen, sind Konzepte, die die Arbeitsmittel betreffen, nicht gut teilbar. Es mag durchaus funktionieren, dass in einem Team, das die Lohnbuchhaltung realisiert, zwei Personen das Thema Lohnsteuer verstehen und zwei andere Personen das Thema elektronische Meldungen an die Krankenkassen. Eine derartige Aufteilung wird jedoch bei Konzepten nicht funktionieren: Wenn zwei Teammitglieder wissen, wie man Variablen in der verwendeten Programmiersprache deklariert, und zwei andere wissen, wie man das mit Funktionen macht, gibt es niemanden, der die Programmiersprache ausreichend gut beherrscht, um sie sinnvoll einzusetzen.

Kirschner et al. haben gezeigt, dass das gemeinsame Lernen in einem Team sehr gut funktioniert, wenn der Lerngegenstand zu komplex für ein Individuum ist, also die Intrinsic Cognitive Load zu groß ist und der Lerngegenstand für alle Mitglieder des Teams gleichermaßen neu ist. Ist die Zusammenstellung des Teams gemischt hinsichtlich der Erfahrung mit dem Lerngegenstand, kann es insbesondere für die Teammitglieder, die bereits Erfahrung mit dem Lerngegenstand haben, negative Lernergebnisse geben. Diese lassen sich unter anderem durch Gruppenverzerrungen erklären, sind aber praktisch nicht zu verhindern.

Ein Aspekt, der beim individuellen Lernen keinerlei Rolle spielt, wirkt sich beim Lernen in Gruppen drastisch aus: Transactive Activitiestragen massiv zur Extraneous Cognitive Load bei. Transactive Activities sind dabei alle Kommunikations- und Koordinationsaufwände, die die Mitglieder eines Teams leisten müssen, um gemeinsam lernen zu können. Die Aufwände für Transactive Activities können dabei so weit reichen, dass sie die Vorteile des gemeinsamen Lernens zunichte machen. Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken, wie diese Transactive Activities reduziert werden können, um die Extraneous Cognitive Load zu minimieren.

Reduzieren von Cognitive Load

Dass eine hohe Cognitive Load hinderlich für das Lernen ist, wurde von Sweller et al. mehrfach gezeigt. Die Reduzierung der Cognitive Load ist seit vielen Jahren ein zentrales Ziel didaktischer Arbeit.

Für die individualpsychologische Cognitive Load Theory wurden fünf Prinzipien identifiziert, die zur Reduzierung der Germane Cognitive Load führen, wobei die Extraneous Cognitive Load im Fokus steht:

  • Kohärenz: einfache, klare Anweisungen und das Weglassen überflüssiger Bilder, Töne oder sonstiger Reize.
  • Signale: das Kennzeichnen und Hervorheben des Aspekts, der im Fokus stehen soll.
  • Redundanz: nicht konkurrierende Elemente mit konsistentem Inhalt unterstützen das Lernen, z. B. passende Audio-Erklärungen zu einem Bild oder beschriftete Elemente in einem Diagramm.
  • Räumliche Kontiguität: zusammengehörende Elemente sind beieinander angeordnet.
  • Zeitliche Kontiguität: zusammengehörende Elemente sind gleichzeitig sichtbar.

Darüber hinaus gibt es noch die weiter oben angesprochenen didaktischen Mittel, um die Intrinsic Cognitive Load zu reduzieren, indem der Lerngegenstand sinnvoll aufgeteilt wird.

Diese Methoden gelten natürlich auch für Cognitive Load innerhalb von Teams.

Allerdings kommen, wie oben bereits beschrieben, weitere Aspekte dazu, die die Cognitive Load in Teams reduzieren können:

  • Komplexität des Lerngegenstands: Die Aufgabe muss komplex genug sein, damit der zusätzliche Aufwand des gemeinsamen Lernens für alle Teammitglieder gerechtfertigt ist.
  • Führung und Unterstützung des Lerngegenstands: die Unterstützung und Begleitung des Teams beim lernen durch geeignete Umgebung, Ressourcen und Methoden reduzieren die Transactive Activities
  • Domänenerfahrung: Je mehr Erfahrung die Teammitglieder in der Domäne des Lerngegenstands haben, desto weniger Transactive Activities sind erforderlich.
  • Erfahrung in der Zusammenarbeit: Je mehr Erfahrung die Teammitglieder in der Zusammenarbeit haben, desto weniger Transactive Activities sind notwendig.
  • Teamgröße: Je kleiner die Anzahl der Teammitglieder, desto weniger Transactive Activities sind notwendig.
  • Rollen: Je klarer die Rollen der Teammitglieder in der Lernsituation definiert sind, desto weniger Transactive Activities sind notwendig.
  • Zusammenstellung des Teams: Je heterogener ein Team zusammengestellt ist, desto mehr Transactive Activities sind notwendig.
  • Arbeiterfahrung: Je mehr Erfahrung die Teammitglieder mit dem Lerngegenstand haben, desto weniger Transactive Activities sind erforderlich.
  • Frühere Zusammenarbeit: Je mehr Erfahrung die Teammitglieder mit der gemeinsamen Arbeit haben, desto weniger Transactive Activities sind notwendig. Transactive Activities stellen dabei den wesentlichen Treiber für die Extraneous Cognitive Load beim Lernen in Teams dar.

Fazit

Gemeinsam mehr erreichen

Die Cognitive Load Theory erklärt gut, welche Faktoren Menschen beim Lernen unterstützen oder behindern. In Bezug auf Individuen ist sie seit Anfang der 1980er Jahre gut erforscht und wird empirisch gestützt. Die Übertragung auf Gruppen wird seit etwa 15 Jahren gezielt untersucht, und es zeigt sich, dass die grundlegenden Prinzipien der Cognitive Load Theory auch für das Lernen in Teams gelten.

Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für zahlreiche Werkzeuge und Methoden, die in den letzten Jahrzehnten im Software Engineering entwickelt und angewendet wurden, wie etwa Workshopformate wie Event Storming, Strukturierungsmethoden für Anforderungen wie User Story Mapping oder die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache für Fachbereiche und Software Engineering.

Klar ist: Die Menge an Aufgaben, die ein einzelner Mensch kognitiv nicht mehr erfassen kann, steigt und wird weiter steigen. Mit den Erkenntnissen der Cognitive Load Theory lassen sich jedoch Wege finden, gemeinsam zu lernen und diese Aufgaben erfolgreich zu bewältigen. Und das ist ein ermutigender Gedanke.